Božo Vrećo (*1983)


Bio-Bibliographie

DER TAUBENSCHLAG <=> Golubarnik


DER TAUBENSCHLAG

Niemals werde ich meine Ankunft in Sarajevo und das Hostel, in dem ich wohnte, vergessen. Auch nicht das Zimmerchen im Dachgeschoss, wo euch das Bett entgegen kommt, wo so ein Gefälle herrscht, dass ihr nicht aufstehen könnt, sondern gesenkten Kopfes alle Schritte vorwärts und rückwärts gehen müsst, wie in einem Gebet, einem fortwährenden Gebet und einer Buße. Ich nannte es liebevoll Taubenschlag, denn es ähnelte jenem im Film über Baš-Čelik1 , als Vida ein Lied singt und ein Hemd für ihren Geliebten bestickt und wartet. Auch ich wartete auf meinen Moment. Das Erste, was ich durch dieses kleine Giebelfenster sah, waren die mit Schnee betupften Dächer der österreichisch-ungarischen Altstadthäuser und Tavernen. Ich erinnere mich, dass es furchtbar kalt war. Es gab eine Ölheizung mit drei Stufen, die ich sofort ans Bett heran zog, ja so war das.

Und es war schwer: weder Freunde, noch Schwester, noch Mutter, nur der liebe Gott in meinen Gebeten, dass alles gut werden möge. Auf diesem Weg lernte ich viele gute Menschen kennen, doch auch jene, die böse waren. Die guten blieben bei mir und verließen mich nie, sie sind auch heute in meinem Leben. Von den bösen hielt ich mich fern, so gut ich konnte, denn wie sagt man so schön: Wenn der Teufel nicht vor dir davonläuft, dann lauf du vor ihm davon. Sie sprangen mich wie tollwütige Hunde an, wollten mich mit ihren Versprechen in Vertragsfallen einfangen, mit denen sie von mir Besitz ergreifen, mich aussaugen, quälen und meine Kunst zerstören würden. Und solcher Leute wegen, die schrecklichen Druck auf mich ausübten, fiel ich eines Tages an der Kreuzung bei der Post und dem Nationaltheater hin. Drei Mädchen streichelten mich und hielten mich im Schoß, bis die Schnelle Hilfe da war. Als man mich barg, kam ich lange nicht zu Bewusstsein. Man sagte mir, dies sei eine Bewusstseinsstörung und ich müsse gut auf mich aufpassen. Sogar dann ließ ich nicht von meinem Traum ab. Ich umarmte meinen vom Sturz schmutzigen Mantel und kam in das kalte Zimmerchen – ich weiß selbst nicht, wie ich zu Fuß hierher gelangte. Ich warf mir eine Decke über den Kopf, fing an zu weinen und sprach zu mir selbst: Möge dir, Bože, das Lied Medizin sein, möge deine Stimme dich heilen. Und, glaubt mir, nach einem halben Jahr im Velike Daire2 vor all den Leuten, die kamen, um mich zu hören, und nach all dem Späteren, den Konzerten mit meinen Jungs in der Gruppe Halka, mit Dino, Edvin, Anes und Adis, und meinen A capella-Konzerten quer durch unsere Region und Europa, bin ich niemals mehr hingefallen. Tatsächlich, mein Lied hat mich geheilt, gerettet, verteidigt, beschützt.

Während ich euch das schreibe, bereite ich mich auf mein April-Solokonzert in der ehemaligen Synagoge vor, meinem Lieblingsort zum Singen in der Stadt. Ich betrachte durchs Fenster mein geliebtes Sarajevo, die Stadt, in der ich gestürzt, gestrauchelt, hungrig und eingeschüchtert war, allein, ohne die Wärme eines Zuhauses – und zugleich die Stadt, in der ich aufstand und es schaffte, mit meinem Lied meinen einzigen Traum zu verwirklichen: euch allen zu Herzen zu gehen, die ihr mich liebt, die ihr mich fühlen könnt, und die ihr kommt, um mich zu hören. Mein Lied ist niemals nur ein Lied, es ist ein Schrei meiner Seele und das Geflüster meiner Tränen und der Fluss meiner Schmerzen und der Seufzer meiner Liebe. Deshalb sei euch Dank, dass ihr mich nie verlassen habt, und dass die Hände jener drei Mädchen, die mich damals gerettet haben, eben diese, eure, sind.

1. Titel eines berühmten ex-jugoslawischen Films aus dem Jahre 1950, der auf einem Volksmärchen über den Wundertäter Baš-Čelik basiert. Die Geschichte ist evtl. vergleichbar mit dem Märchen „Die Kristallkugel“ von den Gebrüdern Grimm. Der Name Baš-Čelik bedeutet so viel wie „Kopf aus Stahl“, und er entstammt einem Turzismus: baş für "Kopf" und çelik für "Stahl". Außerdem ist Baš-Čelik auch der Name einer 1998 gegründeten serbischen Filmproduktionsfirma.
2. Name eines traditionellen Sevdah-Cafés in der Altstadt Sarajevos. Der Name bedeutet „Große Daira“. Das Wort ,Daira‘ kommt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie ,Kreis‘, also: „Großer Kreis“, während ,Daira‘ als Turzismus, in der türkischen Architektur, so viel wie ,Lagerräume‘ (eine Warenlager-Sammlung) bedeutet.


(Übersetzung: Cornelia Marks)


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Božo Vrećo Geboren 1983 in Foča (Bosnien und Herzegowina). Musiker, Sänger, Interpretator, Künstler und Schriftsteller. Studierte ursprünglich Archäologie in Belgrad, wollte aber immer ein leidenschaftlicher Sevdah -Sänger werden, was ihm gelang: Er ist heute, zusammen mit seiner Band „Halka“ – einer der bedeutendsten Sevdah-Sänger in Bosnien und Herzegowina, der auch weltweit die Säle füllt, u.a. in Österreich und Deutschland. Das Besondere an ihm: Er tritt als Sänger in Frauenkleidern und mit Bart auf und bekennt sich offen zu sich selbst und zu seiner Freiheit, so zu sein, wie er ist. Sein Credo lautet: „Alles ist möglich.“ Er singt alte und schreibt neue Sevdah Lieder. Außer Sevdah-Lieder singt und interpretiert er gern auf seine Weise Lieder des Blues, Jazz oder Soul. Sein viertes Musik-Album erschien 2017. Sein literarischer Band „Mila“ erschien 2016 im Buybook-Verlag in Sarajevo / Zagreb.



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