Mile Stojics Gedichte über den Krieg, das Exil und die
verwundete Heimat: Cherubs Schwert
Ralf Julke
03.01.2012
Seit dem Barock hat sich in der europäischen Kultur ein etwas
kindisches Verhältnis zu den Cherubim, den Engeln Gottes, eingeschlichen.
Sie haben sich
in kleine, pummlige Wesen verwandelt, die über Altäre flattern und
Poesiealben verschönern. Sie haben nichts mehr mit den Cherubim der Bibel zu
tun,
die etwa als Sendboten Gottes Adam und Eva aus dem Garten Eden vertreiben.
Streng und unerbittlich.
Wenn der bosnisch-herzegowinische Dichter Mile Stojic sie in einem seiner
Gedichte benennt, meint er genau diese strengen Sendboten Gottes, die
ungerührt der Vertreibung des ersten Menschenpaares zusehen. Die auch später
immer wieder auftauchen als Strafgericht, das Gott über die Erde schickt.
Sie lassen sich nicht rühren. Und sie stehen auch für die
Unausforschlichkeit der göttlichen Ratschlüsse - und damit auch für die
Ratlosigkeit, mit
der Menschen ihrem Schicksal und den großen Katastrophen gegenüber stehen.
Und für den 1955 geborenen Mile Stojic war diese Katastrophe logischerweise
der Bosnienkrieg, der mit den neuen Kriegen des 21. Jahrhundert fast schon
wieder in Vergessenheit geraten ist. 1992 bis 1994 war das, als
Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit erklärte und Sarajevo, die
Hauptstadt, mitten
hinein in den entflammenden Bruderkrieg geriet, in dem die Stadt 1.425 Tage
lang von den Truppen der damaligen bosnisch-serbischen Armee belagert und
beschossen wurde.
Stojic - schon damals einer der wichtigsten Dichter im zerfallenden
Vielvölkerstaat Jugoslawien - ging ins Exil nach Wien. Wo er in der alten,
berühmten Buchhandlung "Gerold" das Aufblühen der bosnisch-herzegowinischen
Dichtung miterlebte: als Blüte im Schaufenster. Denn auf einmal schien
sich ganz Europa für die Literatur der Dichter aus dem vom Krieg zerfetzten
Bosnien-Herzegowina zu interessieren. Das ist lange her. Auch dieser Ruhm
ist verblasst. Andere Kriege haben die Dichter anderer Regionen in die
Schaufenster gespült.
Umso wertvoller die Übersetzungsarbeit von Cornelia Marks, die hier vor
allem die Gedichte aus Stojics 2009 und 2010 erschienenen Gedichtbänden
"Zwischen verfeindeten Völkern" und "Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit"
vorlegt. Darin enthalten auch viele Gedichte aus den 1990er Jahren, in
denen Stojic den Untergang seiner alten Heimat Sarajevo schildert, die
Leiden des Krieges und die Heimatlosigkeit. Eine Heimatlosigkeit, die er ja
auch mit anderen Dichtern des zerfallenden Jugoslawiens teilte, auch mit
serbischen Dichtern, die vor dem aufflammenden Nationalismus in Serbien
flohen. Den Stojic auch schon mal einen kleinen Faschismus nennt.
Man merkt seine Wut und seine Ohnmacht diesen Strippenziehern gegenüber, die
mit dem Zerfall der Föderation in die Machtpositionen drängten. Glücklich
jene neuen Republiken, in denen die neuen Machthaber noch ein bisschen
Kultur und Menschlichkeit hatten. Das konkrete Leid erfuhren die Betroffenen
dann so, wie es Stojic immer wieder schildert: als Walten der finsteren
Cherubim. Unter den Schlägen der Kriegsmaschinerie sind sie ohnmächtig,
müssen
den Verlust ihrer Besitztümer, ihrer Familie, ihrer Zukunft ertragen lernen.
Und auch Stojic, der in Wien Zuflucht fand, verliert seine Heimat. Das
Sarajevo, das er nach dem Krieg besucht, ist ein anderes, als das, in dem er
zu
Hause war. Mehrere Essays sind dem Band beigefügt, in denen Stojic sehr
plastisch schildert, wie fremd ihm das Land ist, in das er mit dem Bus
reist,
weil auch fünf Jahre nach dem Krieg alle Schienenverbindungen zerstört sind.
In Wien freilich fand er auch die Wurzeln des kulturellen Reichtums, der
die einstigen Völker der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verband. Ein
Reichtum, der auch Wien bereicherte. Im Café Central sitzt Stojic an den
Tischen, an denen einst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Avantgarde der
österreichischen Literatur saß. Bis sie ein Karriere-Österreicher aus dem
Land und ins Exil jagte. Was Stojic nicht ganz zufällig auch in die
poetische Nähe der Vertriebenen bringt. Stefan Zweig wird ihm zu einem
Begleiter
in eine neue Zeit der Vertreibung, in der auch das klassische Wien nach und
nach verloren geht und die Filialen der internationalen Ketten in die
Altstadt drängen.
Benn ist ihm nah. Auch in seinem fast fatalistischen Blick auf das Wüten der
Zeit. Und Ingeborg Bachmann macht er sich zur Geliebten und Gefährtin -
erst recht, als ein Peter Handke anfängt, ein öffentliches Loblied auf den
serbischen Nationalismus zu singen. Ein Nationalismus, der auch in seiner
bosnischen Spielart bei Stojic keinen Platz findet. Warum auch? Als Dichter
weiß er doch, welche Folgen diese Borniertheit hat. Sarajevo steht dafür
exemplarisch. Hier fand 1914 das Attentat auf den österreichischen
Thronfolger Ferdinand statt, das den Anlass gab für die Entzündung des
Ersten
Weltkrieges. Das Attentat und seine Opfer tauchen mehrfach auf in seinen
Texten. Auch als Sinnbild dafür, wie leicht der künstlich geschürte Hass
zwischen Völkergruppen missbraucht werden kann, egal, ob es die Sprache ist
oder die Religion, die sie trennt.
Es geht nie um Religion. Es geht immer um den Größenwahn und die Machtgier
einer kleinen, rücksichtslosen Gruppe, die weiß, wie man die Ängste und
Hoffnungen der Menschen missbrauchen kann. Mafiöse Gestalten, die Stojic
eher beiläufig erwähnt, denn sie sind ja noch da, haben sich neue Burgen und
Imperien gebaut. Und das ist nicht einmal neu. Im Gedicht "Zwischen
verfeindeten Völkern" spannt Stojic den Bogen bis ins alte Mesopotamien.
In "Staub" schildert er die Unmöglichkeit, über die Zerstörung der Heimat zu
erzählen. "Über den Krieg erzählen besser die Toten als die Überlebenden
..." Doch werden die Toten erzählen? - 70 Postangestellte sind bei der
Verteidigung der Sarajevoer Post ums Leben gekommen, Plaketten erinnern an
diese jungen Männer. Doch die so lukrative Post soll verkauft werden. Bald
wird eine Glasfassade den stolzen Bau verschönern - und die Plaketten
werden verschwunden sein. Und die Drahtzieher dieser "Privatisierung"? - Man
kennt sie. Nennt sie aber nicht.
Man begegnet in diesen Gedichten, die man ja ohne die Arbeit von Cornelia
Marks nie kennengelernt hätte, Vielem, was man so auch aus der deutschen
Selbstgerechtigkeit kennt. So verschieden ist der Umgang mit der
Vergangenheit nicht. In "Die Grenze" schildert er, wie schnell die Teilung
der Welt
durch eine großherrliche Grenzziehung dazu führt, dass das eigene Land auf
einmal voller Feinde ist - bis in die Bibliothek hinein, die auf einmal
voller feindlicher Bücher steht. Wäre das alles 200, 300 Jahre her, man
könnte fast sagen: Da haben wir was draus gelernt. Doch wenn Bosniaken vom
Krieg sprechen, ist das ein Krieg, der erst vor 17 Jahren endete. Und
Stojics Gedichte erzählen davon, wie anfällig auch das heutige Europa ist
für
die nationalistischen Zündler und Kriegsstifter.
Sarajevo ist wirklich nicht weit weg. Mile Stojic hat es mittlerweile
geschafft, dort wieder Fuß zu fassen. Er gehört wieder zu den anerkannten
Künstlern seines Landes. Doch man merkt beim Lesen auch, dass ihn das Exil
verändert hat und dass er dem Frieden des Tages nie wieder trauen wird.
Denn die Krater der Einschüsse sind nur hinter dem Putz verschwunden. Er
braucht keine Attitüden, keine moderne Wortakrobatik, um all diese Dinge mit
größtem Skeptizismus und immer mitklingender Trauer zu erzählen. Man kann
eintauchen in diese Gedichte. Sie strahlen keinen "besonderen Zauber" aus,
wie der Klappentext verheißt. Dieser Zauber ist vertraut. Das ist der Klang
der großen europäischen Dichtung, wenn auch die Blickrichtung so gewohnt
nicht ist: von Südosten her. Aber auch das ist Europa. Wir blenden es nur
gar zu gern aus. |