Faruk Šehic (*1970)


Bio-Bibliographie

DIE HIERARCHIE DER DINGE <=> HIJERARHIJA STVARI
Emigrantensoul <=> Emigrantski soul


DIE HIERARCHIE DER DINGE (6)

(Aus dem Buch Erzählungen: „Pod pritiskom“ / „Unter Druck“)

In der Neuropsychiatrie

-   Jahrgang?
-   1969.
-   Größe?
-   1,87 m.
-   Gewicht?
-   Etwa 75 kg.
-   Beschäftigung vor dem Krieg?
-   Student der Veterinärmedizin.
-   Verheiratet?
-   Bin ich nicht.
-   Hatte jemand aus ihrem nahen Familienkreis eine seelische Krankheit?
-   Nein.
-   Militärdienst?
-   Zugführer.
-   Frontsoldat oder Diversant?
-   Das Eine wie das Andere.
-   Verwundet?
-   Ja, einmal, TTP .
-   In welchem Kampfgebiet?
-   Grmuško-srbljanski Plateau.
-   Sind Sie drogenabhängig?
-   Nein, aber ich trinke gern.
-   Nehmen Sie Tabletten?
-   Wenn es keinen Alkohol gibt.
-   Haben Sie Albträume?
-   Manchmal.
-   Rauchen Sie?
-   Ich verrauche höchstens beim Sex, aber das ist nicht oft, ich bin genauso ein Verlierer wie alle anderen.
-   Beschreiben Sie mir eine Depression, visuell.
-   Grau. Gestaltlos. Angeschwollener Fluss. Trüber Himmel. Kahle Bäume. Hochzeitsgast ohne männliches Geschlechtsorgan . Meist dann, wenn es keine alkoholischen Getränke gibt.
-   Sind Sie vom Alkoholismus geheilt?
-   Bin ich nicht, hier trinken alle.
-   Wie meinen Sie das: hier?
-   Ich meine, im Krieg, alle trinken, was sollten sie sonst tun.
-   Nehmen Sie Marihuana?
-   Nehme ich, wenn es das gibt.
-   Wovor fürchten Sie sich am meisten?
-   Vor Hühnern, Vögeln, mich ekeln Schnäbel und Krallen. Jenes Häutchen über dem Vogelauge. Ich fürchte mich vor allen gefiederten Geschöpfen. Selbst ein Küken ist für mich abstoßend. Wenn mir eine Henne nachstellen würde, ich würde vor Angst sterben.
-   Träumen Sie von Würmern?
-   Nein. Ich träume, wie ich einen beleibten Mann in weißem Hemd an Pfählen festbinde. Ich versetze ihm einen Kinnhaken. Steche auf seinen Bauch ein. Um den Stich herum formt sich ein dunkelroter Ring. Er ist ein Zivilist. Sein Hemd wird in Sekundenschnelle blutig, wie im Film. Dann fliehe ich, sie verfolgen mich in einer Schlucht. Ich renne zum Bach hinunter. Berge sind um mich herum, und Wald. Zweige knarren im Wind. Hunde bellen. Ich gerate in Schweiß. Bin hinter ihrer Frontlinie. Muss ihre Linie überwinden. Mich durchströmt Angst, dass mich unsere Leute irrtümlich töten, wenn ich zu unserer Linie vorrücke. Seine Kinder schrieen gellend. Weiße Wände waren mit Blut bespritzt wie in einem Schlachthaus. Ich bekam Gewissensbisse. Mir tat der Mann leid, aber er war tot. Die besudelten Wände wurden in frisches Weiß getüncht.
-   Wie oft haben Sie diesen Traum geträumt?
-   Drei oder vier Mal, ich erinnere mich nicht genau.
-   Lesen Sie?
-   Ja, ich lese, es herrscht Krieg, Monotonie, alle lesen.
-   Was haben Sie zuletzt gelesen?
-   Die Sonne geht auf von Hemingway.
-   Was hat Sie in dem Buch berührt?
-   Die Gestalten waren dauernd tödlich besoffen.
-   Haben Sie jemanden umgebracht?
-   Ich weiß nicht. Ich habe geschossen. Das passiert so schnell. In einem Augenblick. Nichts ist zu sehen. Vielleicht habe ich jemanden getroffen, ich bin nicht sicher…
-   Glauben Sie an Gott?
-   Nein, aber falls es ihn gibt, bin ich nicht verpflichtet, ihm zu huldigen.
-   Erzählen Sie mir ein Ereignis, das Sie im Krieg berührt hat.
-   Davon gibt es viele.
-   Was Ihnen zuerst in den Sinn kommt.
-   Nun, einem Soldaten fiel ein 120-mm-Granatwerfer auf den Oberschenkel. Die Granate war nicht explodiert. Mirso lag links neben mir. Er hatte einen ausgesprochen kräftigen Körperbau. War gerade erst frisch gebadet. Rauchte eine Zigarette. Auf seinem rechten Oberschenkel ruhte eine leere Fleischdose als Aschenbecher. Ich las Sartres Der Ekel. Die Taschenbuchausgabe. Das Buch roch nach Schimmel. Wir befanden uns in einem ehemaligen Lebensmittellager, an dessen Fassaden die Granatsplitter Mondlandschaften gezeichnet hatten. Wir gestalteten es in einen Schlafsaal um. Das Haus hatte drei Stockwerke. Zwei aus Fertigteilen und eines aus Beton, plus Dach. Eine gewaltige Festung. Entlang der Wände gruppierten wir in Form des Buchstabens L Couchs und Matratzen aus benachbarten Häusern. Links von uns war ein großes Schaufenster, rechts, ungefähr dreißig Meter hinter dem Lebensmittellager, war ein Fluss. An der Außenseite des Schaufensters stellten wir Siporex-Quader auf, damit sie uns vor den Granatsplittern schützten. Man konnte uns nicht mit einer Gebirgskanone treffen, wegen der Gestaltung des Terrains. Mit Minenwerfern konnte man wohl, doch die Granaten würden auf dem Dach enden. Wir wähnten uns sicher. Nachts hielten wir an der Una Wache. Tagsüber kontrollierten unsere Beobachter den Fluss, damit keiner herüber kam. Wer würde schon mitten am Tag einen Fluss bezwingen? Nachts war es gefährlich. Und morgens, wenn Nebel herrschte. Dann hörte ich eine Explosion. Sie war nicht allzu stark. Ich hob den Kopf von meinem Buch. Sah an die Zimmerdecke. Oben war ein Loch. Gräulicher Staub in der Luft. Mirso schrie. Eine Granate von 120 mm war ihm in die leere Fleischdose gefallen, in welcher er die Asche abgeschüttelt hatte. Ich nahm die Granate. Halte sie in den Händen. Sie ist um die fünfzehn Kilo schwer. Ich legte sie auf den weißen Kacheln ab. Der Stabilisator verleiht der Granate ihre Flugausdauer. Das sind jene kleinen Flügelschnecken. Die Dose erhielt die Form von der Granatspitze, wie ein Abguss. Ihre blutige Maske. Mechanisch riss ich mir das Unterhemd vom Leib, um ihm die Wunde abzubinden. Huka fand ein Stück einer dünnen Latte, womit wir das Unterhemd um die Wunde zusammenschnürten, damit wir die Blutung stillen konnten. Ich zog eine Tarnjacke an. Die Granate hatte ihm das Bein aus der Hüfte gerissen. Die Wunde war riesengroß. Aus ihr klaffte der Knochen. Das Fleisch war zermalmt. Es sah aus wie ein zerdrücktes Kalbsschnitzel. Darf ich mir eine anzünden?
-   Nur zu.

Ich nahm drei Züge, sog den Qualm ein, und die Zigarette brach entzwei.


-   Was geschah später?
-   Huka und ich trugen ihn auf einer Krankenbahre fort, in den Hintergrund. Zwei Soldaten, an deren Gesichter ich mich nicht erinnere, halfen uns. An manchen Stellen mussten wir rennen. Unterwegs fielen Granaten. Man beschoss uns mit einem 84-mm-Granatwerfer und mit dem Flugabwehrmaschinengewehr Kaliber 12,7 mm. Das Dum-dum der Kugeln. Mirso war schwer. Ich hatte das Gefühl, als ob ich einen Himmelskörper trage, auf der Krankenbahre, einen heißen Meteor, keinen menschlichen Körper. Als wir ihn durch eine lang gezogene Siedlung trugen, schauten uns die Zivilisten an, die auf den Schwellen ihrer Haustüren standen. Ich sah die Gesichter der Frauen, von bunten Kopftüchern umrahmt, vor Angst verzerrt und entstellt. Nie zuvor habe ich so etwas gesehen, außer auf Fresken.
-   Hat der Verwundete überlebt?
-   Hat er. Ich fuhr mit ihm in einem Kombi zum Brigadekrankenhaus. Er bat mich, ihm die Hände zu wärmen. Er war mit Pferdedecken der Humanitären Hilfe zugedeckt. Der Geruch seines Schweißes barg in sich den Geruch eines Toten. Das wasserdichte Linnen der Bahre war in Blut getränkt. Ich rieb seine Hände und versuchte so, ihm Wärme zu geben. Er war kalt wie Packeis. Wir luden ihn im Brigadekrankenhaus ab. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Ich ging in die Kneipe „Chauffeurs Nacht“. Drinnen tanzte eine vollbusige Kellnerin auf dem Schanktisch. Durch ihr sommersprossiges Gesicht sickerte Schweiß. Das Blut von Mirso klebte an meiner Brust und kroch unter die Fingernägel. Ich traf Šmeko hinter dem Schanktisch. Das Bier verstärkten wir mit Cognac. In drei Sekunden waren wir voll wie die Haubitzen. Vom Ende des Schanktischs begann ein gewisser Stranjac, Kriminalinspektor, so stellte er sich vor, die weise Politik des Fikret Abdić zu rühmen. Ich erinnerte mich, wie unser Dickerchen auf dem Berg Muratov umgekommen war. Ich trat zu ihm, lud wieder Vaters Tetejac und stieß ihm den Pistolenlauf in den Mund. Sagte ihm, er würde jetzt eine Pistole rauchen. Gefügig wie ein Lamm war der. Ein Polizist in Zivil riss mir die Pistole aus der Hand. Aus der Jackentasche nahm ich eine Handbombe M-75, die dreitausend kleine Bleikugeln hat. Der Hoden des Teufels. Ich zog die Sicherung. Die Leute rückten von mir ab. Ich hasste die Zivilpolizei. Nun betrat die Armee-Polizei die Kneipe. Ich erkannte Sudo, wir waren früher einmal in derselben Kompanie. Sudo beruhigte mich. Ich schob die Sicherung wieder in die Bombe und gab sie Sudo. Er versprach, dass er sie mir morgen früh zurück geben würde. Der Kriminalinspektor verließ das Terrain, zusammen mit dem Polizisten, der mir die Pistole weggenommen hatte. Wir setzten das Saufen mit dem Gemeindevorsteher fort. Nach jeder Saufrunde, die ausgerufen wurde, schrie er: Allah ist groß! Ich machte mich auf den Weg zur Zivilpolizei, der Pistole wegen. Der Nebel war dicht wie der Rauch von Gras in einer Plastikflasche. Auf dem Soldatenfriedhof Olmetajki waren hölzerne Grabmale gesät, sie verfaulten gemeinsam in der Finsternis, die Grabmale und die Toten. In einem UN-Container, wo die Polizei untergebracht war, traf ich jenen Polizisten. Das sind die Memmen, die sich als was Besseres fühlen, und die von der vordersten Frontlinie in den Hintergrund zwischen die Zivilisten flüchten. Von vorne schlug ich ihn mit der Faust auf den Kopf, mitten zwischen die Hörner. Er hielt sich noch auf den Beinen. War doppelt so stark wie ich. Er schlug mich, und ich fiel auf den Rücken. Wäre Himzo nicht gewesen, der sein Vorgesetzter war, dann hätte mich dieser Idiot wie eine Babyrassel zerquetscht. Himzo überzeugte mich, dass mit der Pistole alles in Ordnung gehen wird. Ich lief zur Befehlsstelle der Brigade, zu einem Freund, einem Verbindungsmann, der in der Telefonzentrale arbeitete. Augenblicklich schlief ich auf dem schäbigen Bett ein, während er in der Zentrale Nummern verband. Am Morgen säuselten in meinen Ohren fremde Stimmen. Ich konnte den Lauf der eigenen Gedanken nicht mehr kontrollieren. Mein Gehör intensivierte sich bis zum Maximum. Ich glaubte, dass die anderen Leute meine Gedanken hören können. Da beschloss ich, zum Brigadedoktor zu gehen und um eine Überweisung zum Neuropsychiater zu bitten. So war das. In meinem Kopf kreisen viele Bilder toter Menschen, Freunde und Bekannter. Oft, wenn ich die Gelegenheit hatte, ihren Eltern und Verwandten zu begegnen, ergriff mich ein Gefühl von Scham und Schuld. Manchmal hatte ich den Eindruck, als ob ich mich dafür rechtfertige, dass ich am Leben bin. Wenn jemand umkommt, den du nicht persönlich kennst, dann tut es dir pro forma leid. Im übrigen hat man gar keine Zeit zum Betrauern. Ein Tag Urlaub in Zivilkleidung kann vortrefflich sein, wenn es Zigaretten und Alkohol gibt.-  
-   Was werden Sie tun, wenn Sie den Krieg überleben?
-   Ich werde bis zur Besinnungslosigkeit essen und trinken. Mir Mühe geben, zu leben. Der Frieden macht mir ein bisschen Angst. Es fällt mir auch schwer, mir den Rest der Welt vorzustellen, in dem sich kein Mensch bekriegt. Das kommt mir beinahe fantastisch vor.

Der Neuropsychiater mit dem Fischgesicht kritzelte ein Rezept und reichte es mir über den Tisch. Er sagte mir, ich solle den nächsten Patienten herein rufen, wenn ich hinausgehe. Ich öffnete die Tür. Im Gang waren Massen von Menschen, als würde man hier kostenlos Kaffee und Zigaretten verteilen. In einer Glühlampe blinzelte das Licht. Im Flur roch es scharf nach Medikamenten und Urin. Ein Krankenhaus-Inferno. Ich schaute aufs Papier. Kontrolle in einundzwanzig Tagen und Tablettentherapie mit seltsamer Bezeichnung. Einundzwanzig Tage Urlaub! Aber was ist das für ein Urlaub, es wird das reinste Morden werden, mit Saufexzessen und mit den übrigen Hilfsmitteln. Ein Leben im Vollgas.
-   Der Nächste – sagte ich lächelnd. Und ich schlug mich durch die Menge, dem Tageslicht entgegen.

EPILOG

Den Abend langweilten wir uns eine Nacht wie hundert Jahre so lang auf dem Wachtposten bei Mujo’s Stall, und blickten durchs Fenster auf die glatte Oberfläche der Una. Vor lauter Müdigkeit erschienen uns feindliche Boote, wie sie mit ihren scharfen Bugs in die ruhige Strömung des Wassers einschnitten. Styx hatte mir zwei Stunden lang von seiner Bekanntschaft mit dem Neuropsychiater erzählt. Fast jeder erfahrene Soldat, den ich kennen lernte, ist wenigstens einmal in der neuropsychiatrischen Krankenhausabteilung gewesen. Ein merkwürdiger Lebensstil war das, ähnlich wie Bushido, der Samurai-Kodex. Unreifere Erzählabschnitte habe ich absichtlich verschönt, nur damit sie besser klingen, wobei ich nicht annahm, auf diese Weise die Authentizität seiner Erzählung zu stören. Styx, den ich nie nach seinem richtigen Namen gefragt habe, und später war es mir unangenehm, wurde am Hals verwundet und verlor sein Sprechvermögen im Herbst 1994, als wir zum ersten Mal Radić besetzten. Oft ging ich ihn besuchen, entfernte mich dabei von der Front. Einmal bedeutete er mir mit den Fingern, ich solle ihm vorlesen, was ich geschrieben hatte. Ich zog den schwarzen Notizblock hervor, auf dem das Logo der Touristischen Ortsgemeinschaft Bosanska Krupa abgebildet war, und begann zögernd, vorzulesen. Nach der Hälfte des Textes stoppte er mich und verlangte ein Stück Papier. So ist es nicht gewesen, schrieb er auf. Wie war es wirklich? schlimmer oder besser, füge ich auf dem Blatt hinzu. Viel widerwärtiger, schreibt er und bedeutet mir mit dem Zeigefinger, dass ich mit dem Lesen fortfahren solle. Er bewegte die Lippen und regte die Zunge, so als würde er selbst buchstabieren. Er fuchtelte mit den Händen herum, leidenschaftlich wie ein biblischer Prophet. Mir war nicht ganz klar, ob ich ihm vorlese oder er mir. Die Erregung ließ aus seiner Kehle unterirdische Phoneme hervorquellen, Laute gebären aus jener Zeit, als die Worte noch die ursprüngliche Natur der Dinge in sich bargen.

1 = Diversant = spezieller Soldat, der immer als Erster voran geht und auch für besondere Aktionen zuständig ist, wie zum Beispiel für Angriffe auf die feindliche Frontlinie und Ausführung unterschiedlicher Diversionen
2 = TTP (teža tjelesna povreda) = schwere körperliche Verwundung
3 = Anspielung auf eine ländliche Redensart: Man geht nicht ohne männliches Geschlechtsorgan auf Hochzeitsfeiern.
4 = Tetejac = russische Pistole des Kalibers 7,2 mm



Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks


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Emigrantensoul

Hätte ich genug Geld, würde ich mich nach Berlin senden
Mit DHL oder FedEx, ich wiege etwa 85 Kilo
Und ich bräuchte viel Geld, um mein Gewicht nach Berlin zu verlagern
Macht nichts, ich leih mir das Geld, es gibt immer Leute mit so vielen Banknoten
So viel wie eben nötig, um in einem DHL-Karton nach Berlin zu gelangen
Ich beschloss, dass mich FedEx nicht interessiert, da sein Name zu lang ist
Und sich auf alle bosnischen Unternehmen reimt, deren Inhaber gern
Ihrem Firmennamen das Suffix „ex“ anfügen, weil sie glauben
So würde ihr Betrieb erfolgreiche Geschäfte nach westlicher Manier erzielen
Ich werde mich zum Hauptbahnhof senden, da war ich schon
Von dort aus find ich mich zurecht, hab mich ein wenig mit der U-Bahn angefreundet
Ihr Geruch zieht mich an, ich bin dem Geruch der Berliner U-Bahn verfallen
Der mir Tempo verheißt und eine unterhaltsame Zeit in genussreichen Nächten
Ich muss mich nach Berlin senden, möchte den Stein des Brandenburger Tores
                                                                                                                berühren
Die Hintern griechischer Göttinnen aus milchkaffeebraunem Stein liebkosen
Am Potsdamer Platz Kaffee trinken, umgeben von Spatzen, die, muss ich sagen
Buchstäblich gefiederten Bällen mit Schnäbeln ähneln, welche ihnen dazu dienen
Die Flugrichtung unter der Glaskuppel zu bestimmen, wo Segel aufgereiht sind
Mal erscheinen sie mir wie Segel, ein anderes Mal wie riesige Krawatten
Und während ich Kaffee trank, umkreisten mich die Spatzen, wärmten sich in der
                                                                                                                    Sonne
Warteten auf Brotkrumen, da ich auf der Terrasse des australischen Restaurants saß
Wo Krokodilsteak und Koalafilet zum Speisenangebot gehören
Berlin ist eine Stadt, in der vom Übermaß an Geschichte dein Kopf nicht schmerzt
Ich durchlebte eine Katharsis, als ich über die toten deutschen und die
Alliierten Soldaten lief, genauer gesagt über die Reste ihrer Skelette
Über die Wiese vor dem Reichstag, an der Spree entlang, wo am Himmel
Echte Adler fliegen, unterm Rasen ruhten historische Sedimente, rein wie Tränen
Ich muss mich nach Berlin senden, bin fest entschlossen, aus Sarajevo zu fliehen
In einem Postpaket aus Karton, worauf das Etikett geklebt wird: Express!
Dort oben werde ich befreit sein von fehlerhaften Nationen und unreifen Kleinstaaten
Ich habe blondes Haar, grüne Augen, fraglos werden sie mich durchlassen bei der
Sicherheitskontrolle, denn sie wissen, ich hab, obwohl ich nicht in Berlin geboren bin,
Einen viel größeren Trumpf in der Tasche: ein mystisches Wasserzeichen in meinen
                                                                                                                    Pupillen
Das ist der biometrische Pass eines Staates, der noch nicht geschaffen wurde
Eines Staates ohne Grenzen, aber bis dahin
Wird mir Berlin vollkommen genügen.

Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks

Aus dem Lyrikband von Šehić, Faruk: MOJE RIJEKE. Pjesme / MEINE FLÜSSE. Gedichte – Bijelo Polje: 2015

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Geboren 1970 in Bihac (Bosnien und Herzegowina), Dichter, Prosaist, Essayist, Journalist und Kritiker.

In den Kriegsjahren 1992-1995 war Faruk Šehic Soldat in der bosnisch-herzegowinischen Armee. Einmal wurde er schwer verwundet. Er studierte an der Veterinärmedizinfakultät in Zagreb und an der Philosophischen Fakultät in Sarajevo. Heute lebt und arbeitet er in Sarajevo, unter anderem als Kolumnist.

Seit 1998 veröffentlicht Faruk Šehic Lyrik, Prosa, Essays sowie Kunst- und Literaturkritiken in Bosnien und Herzegowina und im gesamten ehemaligen jugoslawischen Raum. Seine literarischen Werke wurden ins Englische, Französische, Deutsche, Ungarische, Slowenische, Mazedonische, Polnische und Italienische übersetzt und bereits mehrfach ausgezeichnet.


Werke:
• Pjesme u nastajanju, Sarajevo, 2000
• Hit depo, Sarajevo, 2003
• Pod pritiskom, Sarajevo – Zagreb, 2004
• Transsarajevo, Zagreb, 2006
• Transsarajevo, Beograd, 2007
• Hit depo, Pod pritiskom, Transsarajevo, Apokalipsa iz Recycle bina, Zagreb, 2007
• Hit depo, Pod pritiskom, Transsarajevo, Apokalipsa iz Recycle bina, Sarajevo, 2008
• Street epistles/Ulicne poslanice. Zweisprachige Lyrikauswahl, Beograd, 2009

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