Elvir Bajraktarevic (*1976)


Bio-Bibliographie

Eine Szene für Fotografen <=> Eine Szene für Fotografen


Eine Szene für Fotografen

Auf einer Fotoausstellung (ich glaube, es war irgend so ein Amerikaner, der, wie die meisten Fotografen heutzutage gern verlassene und zerstörte Häuser fotografiert, arme Kinder mit einer Schaufel in der Hand und andere bedauernswerte Motive) trat eine Frau in mittleren Jahren zu mir, in einem langen grünen Kleid, mit blondem dauergewellten Haar und ziemlich gut aussehend. Wir standen vor einer alten, von Bombensplittern durchlöcherten und mit Graffiti übersäten Wand. Die Mehrzahl der Worte war des enormen Bildumfangs und des Alters der Graffiti wegen unlesbar, doch versuchte ich hartnäckig, diese Worte zu entschlüsseln, da ich vermutete, dass sich hier eine Botschaft verbirgt, dass diese Graffiti eben die Pointe der Fotografie sind, welche dem getäuschten Betrachter (der da steht und meint, irgendeine gewöhnliche Wand anzuschauen) mit all ihrer Wucht, ihrer Unverhofftheit, den wahren Sinn enthüllen und ihm den Genuss der Entdeckung bieten sollte, den flachen Genuss der Entdeckung einer archäologischen Ausgrabung. Aber so sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nur, zwei oder drei Namen und ein paar verzerrte Botschaften zu lesen. Schließlich nahm ich an, die Pointe bestünde gerade darin, dass das eine gewöhnliche alte Wand ist, wie es sie zu tausenden auf der Welt gibt, aber auch diesen Gedanken gab ich schnell wieder auf.

„Sind sie Fotoliebhaber?“, fragte die Frau, und sah mir dabei in die Augen.
„Nun ja, es geht so, wissen sie. Ich bin nicht wirklich ein Kenner, aber ich mag die Fotografie. Und ich beschäftige mich selbst damit, sozusagen als Amateur.“
„Ach, sagen sie bloß“, freute sie sich und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich muss ihnen etwas zeigen, wovon sie sicher begeistert sein werden.“

Wir gingen in eine Ecke des Raumes. Hier war niemand im ohnehin schon halbleeren Saal. An der Wand hing ein furchtbares Bild: eine Straße und ein Radfahrer, der in der Mitte fährt, auf der weißen Linie, und zu seiner linken Seite, im Schatten der Gebäude, sitzt ein Bettler. Die Straße wird schmaler in der Ferne, der Radfahrer fährt auf das Kameraobjektiv zu, wenige Meter entfernt von einem dreieckigen Schatten, den etwas Unbekanntes bildete. Diese Straße mit der weißen Linie in der Mitte erinnert an ein Bein, und es scheint so, als ob dieser Radfahrer geradezu in die weibliche Scheide rast, während der Bettler ihn offenen Mundes, gedankenlos beobachtet. Der Fotograf hat das mit Sicherheit nicht beabsichtigt; wahrscheinlich wollte er wieder einmal das Grau und die Armut der Leute und der Straße darstellen, die Entfremdung, das Unverständnis oder etwas Ähnliches. Herausgekommen ist allerdings etwas Groteskes, Beängstigendes, ein Radfahrer, der kopflos in eine gewaltige Vagina rast. Wir waren uns darin einig, dass die Fotografie ziemlich ungewöhnlich und interessant ist.

„Wissen sie, dem Sex wird immer weniger Beachtung in der modernen Kunst geschenkt. Ich meine, gehen sie und schauen sie sich irgendeine andere Ausstellung an, welche auch immer, Fotografie, Malerei, ganz egal, sie werden da nur verlassene Straßen sehen, Flüchtlingskolonnen, irgendwelche Alten oder kleine Kinder. Nirgendwo einen gesunden, nackten Körper, ob nun Mann oder Frau. Die Leute wollen heute lieber Gewehre, Kriege und Proteste als etwas anderes sehen. Die finden wohl die Fotografie eines Straßenkehrers mit Besen vor einer Anzeigentafel interessanter als eine wundervolle schwarze Frau, die halbnackt auf den Stufen sitzt und die Tauben füttert. Die Leute haben heute einfach keine Phantasie mehr.“

Sie hatte schnell, energisch geredet, dabei nervös den Kopf geschüttelt und mit den Händen an ihrem Kleid genestelt. Ich überlegte, was eine solche Frau in eine Ausstellung führt: bestimmt hat sie keinen Mann, anderenfalls wäre sie mit ihm gekommen oder zuhause geblieben; keine Kinder, vielleicht eines und zwar ein Mädchen; Hochschulabschluss, Gymnasiallehrerin oder Anwältin mit künstlerischen Neigungen, wie sonst käme sie hierher. Ich teilte ihre ästhetischen Anschauungen, allerdings:
„Allerdings heißt das nicht, dass die Fotografien künstlerisch wertlos sind. Vielmehr. Ich denke, dass ein Kunstwerk genauso viel Wert hat, wie seine Botschaft Wahrhaftigkeit besitzt. Das, was wir auf den Fotografien sehen, ist unser unmittelbarer Zustand, und ich denke, dass der Fotograf das Wesen des Staates und der Gesellschaft getroffen hat. Was mich beunruhigt, sind Leute, die sich für solche Sachen begeistern, aber da hat der Fotograf wiederum den Kern getroffen: Ruinen sind der Zustand unseres Bewusstseins. Wollen sie etwas trinken? Aber wir haben uns noch gar nicht bekannt gemacht: Ich bin Indira.“

„Elvir“, stellte ich mich vor.
„Also, gehen wir?“, schaute sie mich fragend an, und ohne eine Antwort abzuwarten, hakte sie sich unter und führte mich durch den Saal. Ich fing ein paar spöttische Blicke auf und darunter auch einen vorwurfsvollen: vom Aufseher der Galerie. Als ich in einen großen Spiegel am Ausgang blickte, konnte ich nichts Lächerliches an mir feststellen. Die Frau, ich meine Indira, sah ziemlich gut aus. Ihr Kleid aus grobem und dickem Leinen hatte vorn Knöpfe und war bis oberhalb der Knie zugeknöpft, so dass sich, wenn sie ging, ihre braungebrannten, schlanken Beine entblößten. Wir gingen ins Restaurant im Erdgeschoss, setzten uns an einen Tisch nahe der Wand aus Glas, durch die man die Straße sehen konnte, und bestellten Kaffee.

„Ich male, wissen sie“, fuhr sie fort, „und, wie sie sich vorstellen können, bevorzuge ich Akte. Der menschliche Körper ist ein Thema, das nie veraltet, und als Beweis dessen, reicht es, wenn sie sich wenigstens oberflächlich die Geschichte der Malerei anschauen. Jeder nur etwas bedeutende Künstler hat zu Akten gearbeitet. Das, was sie auch für andere Themen nutzen konnten, ist nicht wichtig; das schreibe ich der Eitelkeit zu, der Gier nach Geld oder was auch immer.“
Während wir so redeten, betrachtete ich sie heimlich; ich fragte mich, warum ich nicht sofort bemerkt hatte, dass sie ausgesprochen schön ist. Ihr Gesicht wirkte ein wenig gedunsen, als sei sie unausgeschlafen, doch ich schrieb es nur ihrer Überreiztheit und Seltsamkeit zu. Ich spürte die Befriedigung, die mitschwang, als sie mir sagte, sie sei Lehrerin für Bosnisch an einem Gymnasium; ich täuschte Mitleid vor für den Mann, der im Krieg umgekommen war, in einem italienischen humanitären Konvoi; zeigte mich erfreut, als sie sagte, sie habe eine siebzehnjährige Tochter, eine Tochter, die für eine Vielzahl ihrer Akte Modell stand.

Ein „kleiner, bizarrer Gedanke“ schoss mir durch den Kopf.
„Man kann sagen, dass ich ein Atelier habe. Ich habe es mir eingerichtet im Parterre eines Hauses, in einer Räumlichkeit im Erdgeschoss, die mir zu nichts anderem nutze war. Denken sie bloß nicht, ich jage Ruhm, Anerkennung oder Karriere in irgendeiner Form hinterher. Für mich ist die Malerei ein Ventil, mich zu entladen. Ich male nur, wenn ich mein Inneres ausschütten will, nur um die in mir angestaute negative Energie freizulassen, aber ich nehme den Pinsel nicht etwa verdreht in die Hand und improvisiere, sondern ich versuche, die Negativität umzuwandeln in etwas wahrhaft Schönes, und arbeite deshalb an den Bildern sehr langsam, präzise, um ja nicht zu viele Fehler zu machen. Meine Tochter liegt mir ständig in den Ohren, ich solle mich nicht im Haus vergraben, ich solle immerzu Ausstellungen geben, aber ich denke, dass ich noch nicht bereit dazu bin. Noch immer habe ich nicht genügend männliche Akte, und mein Vater ist schon in die Jahre gekommen, und alles fällt ihm jetzt schwerer.“

Es war der letzte Tropfen, der ins Glas gegossen wurde, und mit beiden Händen ergriff ich die rettende Gelegenheit, die sich bot in Gestalt eines Haufens lärmender Freunde. Ich bat sie um Verzeihung, dabei beteuernd, wie sehr ich hoffte, dass wir uns auf einer der nächsten Ausstellungen wieder treffen, und eilte aus dem Restaurant. Als ich meinen Freunden die ganze Geschichte erzählte, fielen Anregungen wie „Gruppenakt“ und Gruppenarbeit, die auch deren Vater nicht ausschloss. Zum Glück endete alles im Scherz.
Indira traf ich später noch drei Mal. Das erste Mal bei der Ausstellung von Miniaturskulpturen eines jungen Slowenen, wo sie von einer zur anderen Skulptur marschierte, in Gesellschaft einiger älterer Herren, und das zweite Mal bei einer Gruppenausstellung junger bosnischer Maler. Bei beiden Ausstellungen gelang es mir, meine Anwesenheit vor ihr zu verbergen und wegzuschauen. Sie kam mir noch verlorener, noch nervöser vor. Sie trug dasselbe grüne Kleid, nur darüber eine gestickte Weste, und ihr Haar war hinten von einer Spange zusammengehalten. Als ich einsah, dass ich mir sowieso nicht erklären könne, was die meisten der Bilder, vor denen ich stand, bedeuten sollten, verließ ich die Galerie.

Die letzte Begegnung mit Indira war die schmerzhafteste. Ich erblickte sie im Hof der psychiatrischen Klinik „Kreka“, während mein Bus an der Haltstelle stand. Ich rannte aus dem Bus und stürzte geradewegs in ein Geschäft hinein, damit sie mich ja nicht bemerkte. Während ich ein paar Kleinigkeiten einkaufte, sah ich sie, langsamen Schrittes, den Blick zu Boden gerichtet, hinübergehen zum zweiten Hof und hinter dem Gebäude verschwinden. Ich trat an den hohen, grün gestrichenen Zaun heran und hielt nach jemandem vom Krankenhauspersonal Ausschau. Auf einer Bank unter dem Erdgeschossfenster mit Sicherheitsgitter saß ein korpulenter Mann im weißen Mantel, dessen Aufmerksamkeit ich jetzt auf mich zog. Er löschte seine Zigarette und kam langsam zum Zaun.
„Entschuldigen sie“, sagte ich, „aber mich fasziniert diese Frau, die dort hinter dem Zaun vorüberging. Wissen sie, ich kenne sie, doch ich wusste nicht, dass sie Probleme hat. Diese blonde Frau, Indira.“

„Ah, Indira“, sagte er. „Und was fasziniert sie an ihr?“
Ich erklärte, dass ich sie kürzlich kennen gelernt habe, und dass mich interessiert, wie sie hierher gekommen ist, da ich sie noch vor ein paar Tagen draußen gesehen habe.
„Ich vermute, sie haben sie auf einer Ausstellung kennen gelernt“, sagte der Krankenpfleger lächelnd. Ich bejahte es, und fühlte mich unbehaglich. „Und bestimmt hat sie ihnen erzählt, dass sie malt“, fuhr er fort, „und dass sie ein eingerichtetes Atelier hat, in dem sie Akte malt. Ich hoffe nicht, dass sie, wissen sie...dass sie mit ihr“, und hier verschränkte er die Zeigefinger ineinander.
„Nein, habe ich nicht, Gott sei dank“, schrie ich auf und kam nicht umhin, mich zu erinnern, an das klare Bild, das ich eines Augenblicks vor meinen Augen sah, von der Mutter und der Tochter, wie sie sich im Bett wälzen, und von mir selbst, wie ich in sie eindringe wie ins warme Augustmeer.

„Wissen Sie, wir entlassen die meisten Patienten übers Wochenende nach Hause, doch es gibt Leute, die ihre Krankheit auf die schmutzigste Weise ausnutzen. Sie heißt eigentlich gar nicht Indira, sondern Jasmina Alić, und sie ist nicht aus Tuzla, sondern lebte irgendwo bei Zvornik. Untergebracht wurde sie hier vor fünf Jahren, nachdem sie mehr als 50 Vergewaltigungen durch Četniks überlebt hat. Wenn sie Ausgang hat, besucht sie ständig Ausstellungen oder Galerien und spricht über die Malerei, und die Leute nutzen sie aus, wissen sie. Inzwischen kennt sie jeder, der solche Orte besucht. So ist das“, der Mann kratzte sich hinterm Ohr. Ich dankte ihm, und dann ging auch er fort, um jemanden aufzurichten, der im Gras saß und mit den Händen in der Erde buddelte. Ich stieg in den nächsten Bus ein, setzte mich und sah sie, wie sie aus dem Gebäude kam, langsam schreitend und mit sich selbst redend. Das war ein perfektes Motiv für einen Fotografen: der graue Krankenhaushof, die Fassade, die vom Gebäude abbröckelte, ein paar Figuren spazierten in schmutzigen und zerrissenen Umhängen herum, ein gealtertes Kind schaukelte sein Bärchen im Arm, und hinter dem gebräunten Dach, auf dem Gipfel der fernen Berge, der wunderschöne, blutrote Sonnenuntergang.

Übersetzt von Cornelia Marks


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