Auszug (Kapitel XII): Der Ich-Erzähler Halim Hajdarević wird häufig von Ibrahim Barlov, einem ehemaligen Kriegskommandeur, besucht, über den er einen Roman schreiben soll. (Es gibt einen Roman im Roman.) Der Ich-Erzähler lebte während des Bosnienkrieges ab 1992 im Exil in Deutschland und Schweden. Er fühlt sich „von keinem und von niemandes Krieg angezogen“, erst recht nicht von diesem Bruderkrieg…, und er diente auch niemals in der Jugoslawischen Volksarmee. Nun wird er, durch den persönlichen Auftrag, über Ibrahim Barlov einen Roman zu schreiben, ungewollt in die Kriegsgeschehnisse, so wie sie Barlov schildert, hineingezogen...

XII. Die Hadschi-Quelle

        Am Freitagmorgen war ich kaum richtig aufgewacht, als schon wieder jemand an der Tür klingelte. Es war nicht einmal sieben Uhr. Und mir war an diesem kühlen Frühlingstag nicht nach Aufstehen zumute, bevor mir mein Körper selbst sagte: Hey, du kannst jetzt aufstehen, los Mann, auf in den neuen Tag… Das Klingeln war so heftig, dass ich das Gefühl hatte, jemand würde gleich die Tür aufbrechen, wie wild zu meinem Bett rennen und Lärm schlagen über meinem rebellischen Kopf. Ich krabbelte aus den Federn und öffnete. In der Tür stand Ibrahim. Er stand genauso vor mir wie am 3. Januar, nur dass er diesmal so gekleidet war, als ob er beabsichtigte, wandern zu gehen.

  • Ich bin überrascht, dass du nicht vorher angerufen hast? – fragte ich, während ich in meine Hose schlüpfte.
  • Aber ich war mir nicht sicher, ob du das Telefonkabel aus der Wand gezogen hast, du hast die Angewohnheit, dies zu tun… Gib zu, so ist es besser. Beeil dich, zieh dir Sportsachen an, lass uns gehen!
  • Wohin gehen wir?
  • Ich muss dir etwas zeigen, letzte Nacht habe ich mich erinnert, es ist alles organisiert...
  • Was musst du mir zeigen? – ich stolperte um ihn herum.
  • Ich muss dir diesen Wald zeigen, wo der Feldzug stattfand, über den du geschrieben hast. Wir werden nicht tiefer in den Wald hinein gehen. Das ist gefährlich, es gibt Minen. Du wirst es sehen, und du wirst in der Lage sein, die Beschreibung des Raums, in dem alles stattgefunden hat, zu verbessern.
  • Geht es nicht auch an einem anderen Tag? Morgen? Heute habe ich nicht wirklich Lust darauf.
  • Nur heute!
  • Vielleicht bringt Nina mir heute Mirna vorbei?
  • Sie wird sie heute nicht vorbei bringen, mein Freund. Sie bringt sie dir an einem anderen Tag. Nun, am Samstag kann sie sie bringen. Gestern habe ich mich mit Nina unterhalten, und ich habe auch etwas von deinen Eltern gehört... Lass uns gehen, lass uns gehen! – drängte Ibrahim. – Vor dem Hauseingang wartet ein Jeep auf uns. Und du wirst sehen, wie der neue Jeep zieht, der übrigens aus deinem Autohaus stammt!
        Er öffnete die Wohnungstür und trat in den Hausflur. Dabei plapperte er unentwegt:

  • Du weißt, wie diese Kantonspolizei ist, die ist sogar imstande, Kameraden Strafzettel zu verpassen... Mein Fahrer Atif hat während des ganzen Krieges auf dem bergigen Igman- und Treskavica-Terrain so ein altes Klapperding gefahren, stark wie ein Drache. Er wusste, wann da oben ein Hase Junge bekam, wann eine Buche ihre Blätter verlor...
  • Ich komme, ich komme sofort – sagte ich, und mich erstaunten noch Ibrahims Worte von vorhin, dass er von meinen Eltern gehört, aber sich mit Nina unterhalten habe, wie er sagte?
  • Und eine dicke Jacke! Das ist ein Gebirge! Der April hat gerade erst angefangen, es könnte kalt werden – rief er mir vor dem Lift zu, während ich den Schrank nach meinen Wanderschuhen durchstöberte.
  • Ich habe nicht vor, irgendwo zu übernachten – warnte ich ihn, als ich gerade dabei war, meine Schnürsenkel zu entwirren.
  • Ich auch nicht – lachte Ibrahim. – Niemand würde… da oben übernachten! Wir werden vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein!
        Ich wusste nicht, wie weit wir gefahren waren, und erst recht wusste ich nicht, wie viel Zeit während unserer Fahrt mit dem neuen Gelände-Jeep vergangen war. Es ging immer bergauf, in Richtung der Treskavica-Pisten. Ich wusste nur, dass Ibrahim Barlov keinen Moment lang seinen Mund hielt. Er erzählte, erklärte ausführlich, warnte, und an bestimmten Orten gab er die Weisung, anzuhalten und für ein paar Minuten aus dem Auto auszusteigen. Und dann schwenkte er, über die Landschaft gebeugt, als hätte er persönlich gerade die Siegesflagge in dieser imaginären Verantwortungszone errungen, beim Erzählen so heftig seine Arme, dass ich dachte, diese Zeit, von der er mit feuriger Verzückung sprach, könnte plötzlich zum Leben erweckt werden. Ich schwieg. Mein Platz war auf der Rückbank, und alles, was ich sah, kam durch die hängende, grüngoldene Gebetskette in Sichtweite, die an der Fensterscheibe des Fahrers hin und her schwang. Als die Gebetskette während der steilen Fahrt den Hang hinauf ans Glas schlug, dachte ich, es könnten Beeren aus Metall sein.

        Nachdem Atif das Fahrzeug angehalten hatte, beeilte er sich jedes Mal, einen größeren Stein unter die ersten Räder zu legen. Alles, was er sagen konnte, war: „Ja, Kommandant!“, „Natürlich, Kommandant!“, „So ist es, Kommandant“. Zu Anfang überkam mich Langeweile, ich überlegte, zu inszenieren, dass mir plötzlich schlecht würde und wir eilig nach Sarajevo zurückkehren müssten. Doch dann befahl ich mir fast selbst, es für mich unterhaltsam, lustig und entspannend zu gestalten, die Sekunden und Minuten anzunehmen, wie die Beeren von Großvater Salihs Gebetskette zwischen seinen Fingern. Nun, dies war nur ein kleiner Ausflug, und es konnte durchaus interessant sein, wie ich mir, in Ibrahims Kriegsaufzeichnungen starrend, diese Orte vorgestellt hatte, und wie dieselben Landschaften, über die wir gerade mit unseren Augen wie elektrisierte Kaninchen sprangen, tatsächlich aussahen… Ich befahl mir selbst: Verhalte dich so, als würdest du deinen eigenen Arbeitsauftrag erledigen.

  • Geht es dir gut, Hajdarević? – auf einmal, inmitten des ungestümen Gesprächs, drehte sich Ibrahim zu mir um (es war, als hätten wir plötzlich auf 180 Stundenkilometer beschleunigt).
  • Nie besser! – ich streckte mich und hob meine Arme so hoch wie möglich. – Warum sollte es mir nicht gut gehen? Ein wunderschöner Frühlingstag, und ich höre zu...
  • Hier, das ist der Hügel, über den wir gekrochen sind, zu den vorgeschobenen Tschetnik-Schützengräben – Ibrahim betätigte erneut seinen Redemotor.
  • Es war damals Ende Mai, Unkraut und Gebüsche... Wir wurden von Brombeersträuchern, Ginster, Zweigen und spitzen Steinen zerkratzt. Und wir mussten still sein, hundertmal leiser als Glühwürmchen und Mücken.
        Ich ließ meinen Blick umher streifen. Der Wald sah nicht so aus wie in meiner Vorstellung von diesem Raum. Überall wuchsen niedrige Haselnussbüsche, Zwergsträucher von Brombeeren oder Himbeeren. Für einen Moment erinnerte mich die Landschaft an eine Lichtung voller verspielter Pflanzen aus der Ortschaft des Bruders meiner Mutter, aus Župa. Mit Senka und Senad pflückte ich Steinpilze und Pfifferlinge. Die gleichen Gerüche kehrten zurück. Düfte waren das Schönste in der Erinnerung, sie kitzelten mit unerwarteter Kraft die Nerven und ließen sich nicht unterdrücken. An einigen Stellen am Hang wurden einzelne alte Eichen entwurzelt. Als ich die Augen schloss und wieder öffnete, schienen die Eichen näher zu rücken. Der dichtere Wald begann erst in dem Gebiet, in dem laut Ibrahims Erzählung die feindlichen Linien verschanzt waren… Der Boden war nass und rutschig, an den Schuhen klebte Schlamm, und es war schwierig, ihn mit Gras abzukratzen. Hinter uns vertrieben die Krähen mit ihrem Schreien und Flügelschlag den herannahenden Nebel… Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich den Berg hinauf kroch, in voller Militärausrüstung, über und über mit Schlamm bedeckt, verschwitzt, müde und hasserfüllt gegen die ganze Welt. Und es wurde mir leichter zumute, als mir einfiel, dass ich dank Doktor Hadžiredžepašić aus dem Sarajevoer Militärkrankenhaus dem Dienst in der Jugoslawischen Volksarmee entgangen war.

  • Bleibt stehen! – schrie uns Ibrahim an. – Wir dürfen nicht weiter. Der Weg ist vermint!
  • Ist er nicht, Kommandant, ich weiß, dass er es nicht ist, wir können noch ein bisschen bergauf gehen – schlug Atif vor.
  • Können wir nicht! – Ibrahim war entschlossen, dann legte er seine Handfläche wie eine Hutkrempe an seine Stirn und wandte sich mir zu: -– Da ist diese Eiche! Unter ihren Ästen hielt ich mich versteckt während der Aktion, die du beschrieben hast. Weißt du, das kleine Tier hat mich zu Tode erschreckt. Um ein Haar hätte ich geschrien. Hätte ich das leiseste Geräusch von mir gegeben, hätten sie mich verbluten lassen… – und er richtete dieselbe Handfläche, die kurz zuvor als imaginäre Hutkrempe diente, wie eine blutige Säge gegen seinen Hals.
  • Hast du erfahren, wer die Sabotageaktion hat platzen lassen?
  • Habe ich! Ich habe es schnell erfahren… Aber das ist nicht so wichtig für unsere Geschichte. Derjenige ist… – und er schwang sein Bein und seinen Arm, als wollte er mit aller Kraft etwas oder jemanden in den Abgrund stoßen.
        Atif schaute während dieser Zeit vor sich hin und vergrub mit der Spitze seines rechten Wanderschuhs einen weggeworfenen Zigarettenstummel im Boden.

  • Ich habe hier diesen Unfall persönlich verursacht, hörst du. In den Wald geführt und erschossen! Wegen Juka Karaman… Das weiß ich, das wissen Atif und Gott, und jetzt weißt es auch du...
        Er wartete nicht ab, ob ich irgendetwas sagte, sondern fuhr einfach fort und zielte dabei direkt in meine Augen:

  • Frag nicht nach seinem Vor- und Nachnamen, frag nicht, wer er war, nicht, woher er kam, es ist besser für dich, wenn du nicht fragst...
        Atif drückte immer noch seine Zigarettenkippe in den feuchten Lehmboden. Er schuf ein Loch, das groß genug war, dass eine ganze Zigarettenschachtel hineingepasst hätte. Also war er dieser Verwandte von Ibrahim aus dem Krieg, schoss es mir durch den Kopf… Ein Eichhörnchen stürzte sich von der nächsten Eiche, und es schien, als wollte es in unsere Richtung rennen. Dann kehrte es plötzlich um und kletterte wieder in die Baumkrone hinauf. Ein kalter Wind wehte, die Baumkronen rollten sich wie die Seiten eines Kalenders auf, es wurde kühler. Die Kälte kroch wie eine Invasion unsichtbarer springender Eichhörnchen von den Knöcheln bis zu den Knien und prallte auf Schultern und Nacken. Ibrahim hielt seine Jacke in der Hand, und auf seinen Schläfen waren glitzernde Schweißperlen zu sehen. Ich dachte: Wie konnten wir zwei nur aus so unterschiedlichem Holz gemacht sein!

        Für einen Moment wollte ich in den Wald gehen und das Kind in mir wecken, wie in den gelegentlichen Stunden des Alleinseins in Dobrun oder im Wald oberhalb von Mušići. Allerdings waren meine Erinnerungen einzig an den Sommer geknüpft. Das Gras im Juli duftete nach allem, wonach sich die Seele sehnte. Sobald die Regengüsse die Luft wuschen, konnte man wie durch kristallklares Gebirgswasser alles sehen, was vergangen war und was noch kommen sollte. Wogende Chöre von Vogelgesängen und –schreien erwachten zum Leben. Jetzt gab es nichts davon, nur noch ein paar Zwitscher-Geräusche, mehr aus der Erinnerung als aus der Realität, denn jetzt war April, und es war zu früh.

        Ich konnte nicht zusehen, wie Ibrahim seine schlammigen Stiefel auf den weichen Kissen der Schlüsselblumen sauber machte, also drehte ich meinen Kopf weg und lenkte meinen Blick in Richtung Osten. Ein Schwarm Krähen stürzte sich auf einen jungen Falken.

        (Atif würde mich, als ich ihn ein paar Monate später in meiner Straße, in der Patarenska-Straße, in der Nähe der Bushaltestelle in Richtung Koševsko brdo traf – mochte unsere Begegnung nun zufällig sein oder nicht, ich wusste es nicht – warnen, nicht mit meinem Kopf zu spielen und niemandem zu verraten, dass Ibrahim persönlich jemanden erschossen hatte. Er erinnerte mich daran, dass Ibrahim in seiner Wut eher einem Monster als einem normalen Mann glich… „Das war einer von uns“, keuchte Atif fast. „Wie – einer von uns“, fragte ich. „Also, ich weiß nicht, was deine Frage soll, wie – einer von uns, er war einer unserer Leute, Muslim, Bosniake, Kämpfer in der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina, und das seit dem ersten Tag der Aggression, nun ja, das bedeutet einer von uns, und ich warne dich brüderlich, niemandem zu verraten, was ich gesagt habe.“ Er erwartete nicht einmal, dass ich irgendetwas sagen würde, er bohrte nur weiter: „Ich bin überrascht, dass sich Ibrahim so vergessen hat und er es in deinem Beisein laut in Treskavica erzählt hat? Das sieht ihm nicht ähnlich. Vielleicht stellt er dich auf die Probe? Dann ist er am gefährlichsten.“ – „Ich werde schon nichts verraten, bin ja nicht verrückt“, winkte ich ab, „warum sollte ich irgendjemandem irgendetwas sagen…“ – „Das ist kein Spiel, sei nicht verrückt“, sprach Atif und sah mir dabei nicht mehr in die Augen.

        Dann fuhr er leiser fort… Er erklärte, dass er der Meinung sei, der junge Mann, der erschossen wurde, sei kein Verräter gewesen, sondern er stamme aus einer tugendhaften Familie, und der angebliche Verrat dieses jungen Mannes sei lediglich eine Konstruktion in Ibrahims Kopf. Dem Jungen wurde Hochverrat vorgeworfen, er wurde erpresst, weil seine Eltern auf feindlichem Gebiet gefangen genommen worden waren und er vor der Aktion gewagt hatte, zu zaudern. „Später kam heraus“, sprach Atif aufgeregt, „dass seine Eltern mindestens fünfzehn Tage vor unserer Aktion gegen sieben ihrer eigenen Soldaten ausgetauscht wurden, nur dass keiner der Kämpfer in der Brigade davon wusste und niemand sie informierte, weder diesen jungen Mann noch Ibrahim...“

        Dann hatte ich das Gefühl, dass es für die Fertigstellung des Romans über Ibrahim Barlov sehr wichtig sein würde, mich mit Atif öfter zu treffen. Er wusste vieles von dem, was Ibrahim mir verschwieg. Es lag nicht so fern, dass Ibrahim ihn schickte, um durch ihn meine Treue zu dem vereinbarten Auftrag zu testen… „Lass uns einen Kaffee trinken gehen“, lud ich ihn in im selben Moment ein, als mir dies durch den Kopf schoss. „Ein anderes Mal“, unterbrach er das Gespräch, „ein anderes Mal“, wiederholte er und kehrte um, lief jedoch in die entgegengesetzte Richtung als die, aus der er kam, als ich ihn getroffen hatte.

        Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr schien es mir, dass unsere heutige Begegnung ganz und gar kein Zufall war.)

        Ibrahim geriet beim Erzählen während der Autofahrt oder des Spaziergangs auf den Treskavica-Pisten nicht ins Stocken. Nun waren wir bereits in dem Teil der Geschichte angekommen, in dem er die angedrohte Sabotageaktion aus eigener Kraft fortsetzte. Ich schauderte und spürte ein Frösteln in meinem Hinterkopf, als ich daran dachte, wie er jemandem die Kehle durchgeschnitten hatte. Einen feindlichen Soldaten würde er, sagte er, von hinten fangen und ihm das Knie in die Wirbelsäule rammen („dann knirschen die Knochen wie Eiszapfen, mein Bruder, und das Herzchen zwitschert wie ein Spatz“), und dann würde das Messer in Richtung Hals rasen. All das veranschaulichte er mit der rechten oder linken Handfläche. Wenn er mit der Handfläche auf einen Baumstamm geschlagen hätte, so hätte ich das Gefühl gehabt, dass der Baum gefällt worden und er blutend und in seiner ganzen Länge und Breite vor uns nieder gestürzt wäre. (Du bist schwach, Halim, zu schwach dafür, für solche Geschichten, beschwerte ich mich bei mir selbst, noch wäre es nicht zu spät, aufzugeben und vom Schreiben des Romans Abstand zu nehmen...)

  • Alles ging so blitzschnell, Hajdarević, als hätte ich zehn Leben, zehn Kräfte, zehn Geschwindigkeiten, zehn Messer – keuchte Ibrahim, und die Luft füllte sich mit Blut seiner messerklingenscharfen Handflächen wegen. – Das Schlimmste war, als ich ausweichen und zu unseren Schützengräben hier unten rennen musste. Siehst du, da ist es...
  • Feen haben dich hierher gebracht.
  • Das ist es, was ich gesagt habe?
  • So ist es, Kommandant – wurde er von Atif unterstützt.
        Ich blickte in den Wald, die Entfernung war nicht weit von der Stelle, an der wir standen. Sicherlich weniger als einen Kilometer. Der Wind bewegte wieder die Wipfel der Bäume. Es war, als würden sie auf uns zukommen. Die Waldgeister wollten uns von diesen Hängen vertreiben, dachte ich und lachte zugleich über meinen kindischen Scherz… Aus dem Wald kamen keinerlei Geräusche oder Bewegungen, aber ich wusste, wenn wir hineingehen würden, würden wir uns in einem bedrohlichen Netz von Bewegungen und Geräusche befinden. Wir würden gefragt werden: Was macht ihr hier, der Krieg ist vorbei! Es kam mir so vor, als habe der Wind auch seine guten Seiten, er vertrieb die Geister, lenkte die Gedanken von einem Punkt in viele Richtungen. Manchmal, nach einem starken Luftzug, war die Luft erfüllt vom gleichgültigen Geruch atmender Erde und vom lauten Knallgeräusch platzender Knospen ringsumher. Ibrahim verhielt sich wie Einer, der hier alles kannte und allem wieder Befehle erteilen konnte. Ich wurde von dem Gefühl überwältigt, dass vor mir nicht derselbe Mann stand, der mich heute Morgen zum Aufbruch nach Pazarić und Treskavica gedrängt hatte, sondern ein erzählendes Monster in Menschengestalt, das den Raum, in dem es sich befand, gleichermaßen genoss und mit ihm haderte. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er sich in einen Oktopus verwandelt und angefangen hätte, uns und alles um uns herum mit seinen aufdringlichen Tentakeln zu umarmen, und wenn sich eine einsame alte Eiche, verstreut zwischen den Büschen, eine nach der anderen gehorsam in einer Kolonne auf uns zu bewegt hätte.

  • Lasst uns gehen? – schlug ich vor.
  • Nein, das werden wir noch nicht tun... Das ist längst nicht alles, es gibt viel mehr zu sehen. Es dauert noch lange, bis es dunkel wird.
        Und tatsächlich dauerte es einige Stunden bis zum Dunkelwerden. Atif verirrte sich für einen Moment, doch dann kam er mit einem Batzen aufgeweichter Seeigel in seinen Händen. Sie waren überall. Es gab niemanden, der sie sammelte. Sie haben Kälte und Frost überstanden und ließen sich nun zwischen den Zähnen auslutschen. Für mich sahen sie aus wie hängende Blutgerinnsel.

  • Nimm welche – bot er an.
  • Ich kann nicht.
  • Es ist gut gegen Müdigkeit, Schwäche...
  • Ich kann nicht! – ich schüttelte panisch den Kopf.
        Danach führte uns Atif zu der Stelle, wo, wie Ibrahim sagte, fünf Kämpfer der bosnischen Armee begraben waren.

  • Ich sehe keine Grabhügel – bemerkte ich.
  • Du wirst auch keine sehen – erwiderte Ibrahim. – Nach dem Krieg exhumierten die Familien die Leichen und begruben sie auf den heimatlichen Friedhöfen für Märtyrer.
  • Ich sehe überhaupt kein Hinweisschild.
  • Das wird noch kommen – sagte Ibrahim. – Langsam. Beten wir die El-Fatiha! Für mich sind ihre Gräber hier... – und er hob die Hände und sah mich schräg an, als bezweifelte er, dass ich wüsste, wie man die El-Fatiha rezitierte.
        Ich weiß, Ibrahim, gab ich ihm meine Antwort auf seine nicht gestellte Frage, neben Ibrahims lautstarker Rezitation der El-Fatiha. Ich rezitierte still, in meinem Innern.

  • Sie sind hier sinnlos umgekommen. Schuld war Kommandant Aždahić! Alle zogen sich zurück, als der Igman und die Bjelašnica fielen, doch sie wurden hier gelassen. Als Opfer… Es wurde ihnen gesagt, dass Hilfe kommen würde, aber sie haben sie verhökert, denn dieser Hügel durfte nicht in die Hände des Feindes fallen, und so war alles gelogen… Sie haben sie gefangen, gefoltert, abgeschlachtet und zurückgelassen.
  • Wie wurden sie begraben? – fragte ich.
  • Wie? Naja, sie kamen aus Deutschland oder Schweden… woher auch immer, und sie haben uns bei den Beisetzungen und Beerdigungen geholfen. In der Nacht... – er hielt kurz inne, denn er wollte nichts vergessen. – Wir warteten eine finstere Nacht ab, eine, in der es regnete, damit man die Schaufeln und Spitzhacken nicht hörte, so wurden sie begraben.
        Plötzlich jammerte ein Kätzchen zu unseren Füßen. Es kam wie aus dem Nichts, und das Erste, was ich dachte, war, dass Tante Altuna in Dobrun weinen und sagen würde, dass dies ein unsichtbarer Geist sei, aus Feuer erschaffen, und dass man sofort laut den Koran-Vers Ayatul-Kursi beten müsse.. (Wenn ich ihn gekannt hätte, hätte ich gleich damit begonnen.) Atif hob das Kätzchen hoch und beruhigte es, indem er es hinter dem Ohr kraulte.

  • Wo kommt das denn her? – entfuhr es aus meiner Kehle.
  • Sicher hat es jemand hierher gebracht… Die Leute haben die Angewohnheit, Kätzchen und Katzenhäuschen loszuwerden, indem sie sie in die Berge brachten, im Wald aussetzten, und wenn sie zurückkehrten, dann kehrten sie eben zurück... – sprach Atif.
  • Wir werden es mitnehmen – schrie Ibrahim. – Wir bringen es dieser Sekretärin von Čavalić im Autohaus, Nina… Könntest du es ihr mitnehmen?
  • Ich nicht, ich kann nicht – verteidigte ich mich mit beiden Händen. – Ich bin im Urlaub, ich schreibe, und ich mag keine Katzen, ich mag Katzen überhaupt nicht.
  • Ist ja gut, ich werde dich mitnehmen, ja ich werde dich mitnehmen, oder der Onkel Atif hier nimmt dich mit – redete er direkt und in zärtlicher Kindersprache mit dem Kätzchen, während es mit der rechten Pfote sein kurz geschnittenes Haar befühlte. Er wandte sich zu mir um: – Dieses hübsche Mädchen, Nina, ist ganz verrückt nach Katzen, ich habe ihr schon eine hellbraune Katze gebracht – und er übergab Atif die Katze und wedelte weiterhin mit seinen Händen herum, als würden die Sätze über all das, was sich während der Kriegsoperationen in diesem Gebiet ereignet hatte, aus dem Nichts platzen.
        Beim Anblick des Kätzchens, das in Atifs Armen lag, wurde ich vor Zärtlichkeit und Abscheu zugleich kreideweiß. Mit seiner blass-braunen Farbe erinnerte es mich an eine Katze und eine Zeit, an die ich mich nicht gern erinnerte… Das Kätzchen begann, sich aus Atifs Armen zu befreien. Es fühlte sich nicht willkommen in seiner Umarmung. In meinen Armen, dachte ich, würde es schreien wie ein unglückliches Mädchen? (Katzen führten mich regelmäßig in Gedanken zurück ins Exil nach Deutschland. Ich wusste selbst nicht, warum ich mich so ungern daran erinnerte. Ich hoffte, Ibrahim würde vergessen, es ins Autohaus zu bringen. Nina, die Sekretärin von Čavalić, hat ihre hellbraune Katze, hätte sie etwa die Kraft, ihre Zärtlichkeit an zwei Katzen zu verteilen...)

        Von Ibrahim erwartete ich nicht, dass er mir ausgerechnet an diesem Ort vorwerfen würde, während des Krieges ein Flüchtling gewesen zu sein. Ich wollte erzählen, dass ich bereits im Januar Neunzehnhundertzweiundneunzig fortgegangen war. Und damals wurden, vom Gebäude der Nationalversammlung Bosniens und Herzegowinas zur Kathedrale und zur Begova-Moschee, Kozara-Volkstänze getanzt, und überall waren Bilder von Marschall Tito zu sehen… Ich fühlte mich von überhaupt keinem und von niemandes Krieg angezogen. Doch sobald ich Ibrahims schroffe Antworteten vermutete, gab ich auf. Das Wichtigste war, dass er davon überzeugt war, ich würde nicht aufhören, das Buch über ihn zu schreiben, würde mich an unsere Vereinbarungen halten, und er könnte mich hier und da ein wenig beleidigen. Ibrahims Hang zum Schimpfen, Beleidigen und Ermahnen musste ich in Zukunft im Auge behalten und mich dementsprechend verhalten. Wie würde er reagieren, wenn ich ihm erzählen würde, was für eine Arbeit ich während meines Aufenthalts in Deutschland hatte, bevor ich nach Schweden ging, und warum mich die Katze in Atifs Armen nervte?

  • Ärgere dich nicht, Halim Hajdarević, wegen Deutschland und Schweden – als hätte er durchschaut, worüber ich nachdachte... - Jemand im Krieg muss auch ein Feigling sein, tut mir leid, ich wollte sagen, jemand muss ein Flüchtling sein… Heute versorgen viele, die geflohen waren, die Helden der Verteidigung Bosniens und Herzegowinas mit Nahrung und erhalten sie so am Leben. Du musst wissen, dass es nach jedem Krieg mehr Feiglinge auf der Welt gibt als Tapfere. Und so werden die Menschen von Krieg zu Krieg immer ängstlicher. Weißt du, warum?
        Ich kannte die Antwort, bevor Ibrahim meinen Satz abfing.

  • Weil die Mutigen sterben!
  • Es gibt nichts, worüber ich mich ärgern müsste – fiel ich ein, um mich von seinen Weisheiten zu befreien, während der scharfe Wind erneut von Nordwest auffrischte und mir unsichtbare kalte Nadeln ins Gesicht stach.
  • Dieser unser Roman – und er wich bis zu den Hundsrosenbüschen zurück – hat mit dir zu tun, und nicht mit mir. Du bist hier wichtig, ich kann, wenn es sein muss, auch der Flüchtling aus dem Roman sein. Siehst du, siehst du, das gefällt mir, das ist, wie ihr Schriftsteller sagt, eine lebendige Geschichte, das ist das Wesentliche… – und er drehte sich zu Atif um. – Komm schon, Atif, führ uns zur Hadschi-Quelle. Beeil dich, damit wir nicht in die Dunkelheit geraten. Und sieh mal, sieh nur, gibt es denn keine Möglichkeit, dass du dich mit dieser Katze anfreundest? Hilf ihr ein bisschen… Ich kehre nicht nach Sarajevo zurück – er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter – nicht eher, als bis ich Wasser aus der Hadschi-Quelle getrunken habe!
        Ein paar Minuten später schlief die Katze zufrieden schnurrend auf der Rückbank im Jeep ein.

        Bis zur Hadschi-Quelle schlugen wir uns etwa zehn Minuten lang durch den dichten Buchenwald. Hunderte Äste schlugen mich ins Gesicht. Auf einmal erschien hinter dem Felsen, der gleichsam vorwurfsvoll auf uns zutrat, mit der Absicht, uns nicht weiter zu lassen, eine Quelle.

  • Da ist sie, da ist sie, Hajdarević, die Hadschi-Quelle – freute sich Ibrahim. – Es gibt kein Wasser wie dieses vor dem Paradies! ... Atif, hast du Flaschen mitgebracht?
  • Habe ich, Kommandant! Trinkt nur ihr zwei und erfrischt euch, ich werde mir später schnell etwas einschenken.
        Wieder einmal spürte ich, wie sehr ich Wasserquellen an solch verlassenen, fast unzugänglichen Orten liebte. Ich liebte sie seit meinen frühesten Tagen, als ich sie mit der Kinderguerilla meiner Cousine im Župa-Tal, in Dobrun, im gesamten Gebiet von Višegrad besuchte. Meine Cousine Senka Bósno freute sich, mir die Quellen in ihrer Heimat zu zeigen. Über alle gab es jeweils Geschichten, die einem die Haare zu Berge stehen ließen, oder vor deren Zärtlichkeit man sich sofort verneigen konnte. Zur Quelle Studenac, in Richtung des Dorfes Koritnik, kam kurz nach Mitternacht ein Großvater in grünen Gewändern, trank Wasser, führte die Waschung durch, verrichtete einen ganzen Monat lang mehr Gebete als der frommste Mann, und dank seiner Gebete gab es Sommer, Gesundheit und Kinder, die geboren wurden, und große Freude, das ganze Jahr über. An der Vražijem-Quelle spielten Mädchen, nackt bis zum Po und mit Haaren, die bis zum Boden reichten. Wer ihre schweren Brüste erblickte, der würde niemals mehr irgendetwas sehen… Als man auf Hamidas Wasser an einem Junimorgen den verstörten und beinahe schon toten Hadžo Biber fand, verbreitete sich im Župa-Tal die Nachricht, dass der unglückliche Dorfdichter die ganze Nacht von Teufeln geritten wurde, und dass er sie bis nach Kabernik tragen musste. Senka erzählte dies bei einem fröhlichen Spiel, so als wollte sie sagen, es sei bewölkt, oder als fragte sich ihre Mutter, meine Tante, die gerade Pita mit Kartoffelfüllung zubereitete, ob ihre Gäste etwas mehr Zwiebeln mochten, oder ob noch eine andere Bosniakin in Višegrad geheiratet hatte… „Unsere Quellen sind in der Wand des Zimmers“, würde mein kleiner Bruder Hazim in der Geschichte dazwischenreden, und erst dann würden wir sehen, dass auch er sich angezogen gefühlt und zugehört hatte...

        Ich trank langsam und still das Wasser aus der Hadschi-Quelle und teilte es in genau abgemessene Schlucke auf, es hatte einen metallischen Geschmack, ich folgte ihm, während es durch meine Kehle, bis in meinen Magen und darüber hinaus floss, und erinnerte mich an all die Quellen, aus denen ich trank und deren Wasser ich spürte… Wie die anderen schwieg ich und genoss den gesegneten und feierlichen Moment der Begegnung mit etwas, was man Gottes Werkstatt nennen könnte. (Zugegeben, dieser Vergleich stammte nicht von mir. Ich übernahm ihn von einem Namensvetter und vielleicht Verwandten, der, soweit ich wusste, ein Schriftsteller war, der an einigen Orten respektiert wurde, und von dem man sprach. Ich fragte mich, ob er von dieser Hadschi-Quelle wusste.)

        Das Wasser floss gleichgültig, ohne Geräusch oder Panik, den moosigen Hang hinunter, voller Blätter, Zweige, sternförmiger Täler, vergehender Stille. Ein schwarzer Vogel, der jede Art von Vogel hätte sein können, auch ein Adler oder von mir aus ein Rabe, senkte seinen Schnabel in die braune Ahornblattschale und schaute sich nach jedem Schluck Wasser erschrocken um. Dann kam noch ein anderer Vogel dazu. Und noch einer. Es waren Amseln. Ich fragte mich, ob Ibrahim, Atif und ich das gleiche oder zumindest ein ähnlich nahes Erlebnis und Verständnis dieses Wassers hatten. Unmittelbare Erfahrungen blieben oft für immer bedroht und verloren. Die Natur schien den Freuden und Nöten des Menschen stets gleichgültig gegenüber zu stehen. Aus dem Hadschi- und dem Studenac-Quell, aus Hamidas Wasser, dem Vražijem-Born und aus allen anderen Quellen tranken sowohl die Durstigen als auch diejenigen, die es einfach nur so taten, um andere nicht zu verletzen. Das Wasser tranken sowohl Verwundete als auch Gesunde, feindliche Kämpfer und bosnische Soldaten, diejenigen, die töteten, und die, die in einer Stunde, einem Tag, einem Jahr umgebracht wurden. Es tranken auch Hirsche und Wölfe sowie Engel und Teufel, und jeder dieser Brunnen war eine reichliche Gabe für alle Arten von Mündern und Stimmungen… So wie der Kirschbaum in Dobrun, im Garten meines Großvaters Salih und meiner Großmutter Altuna, blühte und Früchte trug, auch für diejenigen, die in seinem Schatten getötet und gefoltert hatten. Der Kirschbaum war nicht in der Lage, sich in menschliche Charaktere und Gewohnheiten einzumischen. Und wenn wir vergaßen, woher manche Früchte kamen, auf welche Weise die Milch, die wir tranken, zu uns gelangte, wenn wir vergaßen, dass das Fleisch, das wir aßen, der lebende Muskel eines Geschöpfes war, wurden wir zu Maschinen, zu Wesen ohne Seele und Emotionen, hatte der Biologielehrer in der Grundschule der Bistrik-Siedlung uns gewarnt.

  • Wir müssen uns beeilen – war Atifs Stimme hinter einem Fichtenstamm zu vernehmen.
        Die mit Wasser aufgefüllten Flaschen packte er in einen Stoffbeutel.

        Ich drehte mich um. Es war, als ob sich zusammen mit mir alle Baumkronen über meinem Kopf drehten? Der Himmel, den ich sah, hatte ein Ziffernblatt. Die Zeiger konnten die Spuren zweier Flugzeuge sein. Ibrahim winkte etwa einhundert Meter von mir und der Quelle entfernt. Wann war er dazu gekommen, Wasser aus der Hadschi-Quelle zu trinken? War ich etwa so sehr in Gedanken versunken gewesen? Atif beeilte sich, dem Kätzchen zu trinken zu geben, ehe er das Lenkrad ergriff.

  • Du hast nicht gesehen – sagte Ibrahim zu mir, als wir bereits im Jeep saßen – dass es ungefähr dreißig Meter oberhalb der Stelle, an der du standest, eine weitere Quelle gibt. Beide heißen Hadschi-Quelle, aber manche Leute behaupten scherzhaft, dass die untere der Brunnen der Priesterin, Hadžijnica, sei. Daraus hast du getrunken. Bei großer Dürre versiegt die obere Quelle, und es gibt nur noch Wasser in der unteren. Ich habe es nicht gesehen, aber das sagen die Leute. Damit du es weißt, ich werde Nina berichten, dass du nur an der Hadžijnica-Quelle warst und nur aus ihr getrunken hast, und dass dir Hadschi egal ist.
        Ich schwieg. Das waren diese inneren Zustände, wenn sich kindliche Sorglosigkeit in die Sinne schlich.

  • Komm schon, mein Freund! – fuhr Ibrahim fort – oder bist du noch im Wald? Ich glaube, du bist immer noch bei Hadžijnica! … Fahr, Atif! Es wird schon dunkel werden, wenn wir nach Pazarić hinunter fahren. Hat die Katze getrunken? – Er drehte sich um: - Pssst, psst, sie schläft, die Katze schläft...
        Mich störten Ibrahims rustikale Scherze nicht. Auch Atifs Lachen, das nur damit zu tun hatte, dass Ibrahim mit der erwarteten Reaktion zufrieden sein würde, machte mich nicht nervös. („Einmal Kommandant, immer Kommandant“, würde mein Großvater Salih sagen, indem er sich an seine Zeit im Zweiten Weltkrieg erinnerte. Als sie ihn absetzten, blieb er für dich, mein Sohn, und für diejenigen, die ihn für etwas angebetet hatten, und für diejenigen, die immer noch auf ihn hören würden, stets der Kooo-maaan-dant“.)

        Wie gut, dass zumindest die Geschichte über den Krieg ein wenig abgeklungen war, dass wir einander nicht länger wie passive Puppen behandelten, die in die schmerzhaften Statistiken darüber versunken waren, wer gestorben sei und auf welche Art und Weise dessen Leben zu Ende gegangen wäre. Ibrahim erzählte nun von der Krankenschwester und Übersetzerin Zlata, die einmal das Presseteam Al Jazeere mitgebracht hatte. Kameramann Arap stand wie angewurzelt da, denn er konnte sich weder von der Hadschi-Quelle noch von Zlatas erfrischendem Antlitz trennen. Währenddessen berichtete sie in anspruchsvoller englischer Literatursprache über die Kriegshandlungen in der Zone gemeinsamer Einheiten der bosnischen Armee, und sie übersetzte das, was der Kommandeur der Brigade, Biščević, und andere Militärkommandeure sagten... „Ach, wenn ich nur diese Fernsehaufzeichnungen hätte“, seufzte Ibrahim, „ich würde sie mit Gold vergüten“… (Und wenn Ibrahim so weitergesprochen hätte, wie er die ganze Zeit erzählt hatte, während wir auf Schlachtfeldern, Bergen, Pfaden, Stellungen und verstreuten Gräbern von Kämpfern der bosnischen Armee herumliefen, dann hätte alles an und in mir geblutet, und es hätte mich erstickt. Ich konnte schon jetzt kaum noch atmen...)

        Wie gut, dass wir nun alle schwiegen, während in Pazarić und auch in weiterer Ferne, Richtung Hadžići und Sarajevo, nach und nach die Lichter angingen. Ich fragte mich, ob die Zlata, die Ibrahim erwähnt hatte, dieselbe Zlata war, die einstige Schönheit von Sarajevo, die bei meiner Silvesterparty dabei war… Das Kätzchen sprang mir überraschend auf die Schultern, tätschelte mit seinem Schwanz mein Gesicht, und kletterte dann auf Ibrahims und schließlich auf Atifs Schultern, erstaunt, wo es hingeraten war… Ibrahim liebkoste es fürsorglich mit seiner Hand und legte es sich auf den Schoß.